Wissen Sie, welche Farbe ein großes Missverständnis ist? Weiß. Das sagt Farbkonzepterin Nathalie Pagels. Ihre Begründung: Weiß ist nicht neutral und macht nicht größer. Weiß vereinzelt und braucht viel Licht, um weiß zu scheinen – und wird trotzdem nicht lange strahlend weiß sein. Hätten Sie diese Antwort erwartet? Wir nicht. Überhaupt fängt man im Gespräch mit Nathalie an, Farben mit ganz anderen Augen wahrzunehmen. Ach was, nicht nur mit den Augen. Man beginnt, sie zu fühlen und zu schmecken. Man spürt mehr, welche Farben schwer und welche leicht sind, welche ein gutes Gefühl schenken und welche eher nicht.
Allein das ist ein Geschenk. Ein noch größeres ist es, mit ihr in die Wunderwelt der Weihnachtsfarben abzutauchen. Aber lesen Sie selbst ...
Welche Farben hat Weihnachten? Rot und Grün? Silber und Gold? Vor einigen Jahren brachten wir ein Buch heraus, das den Titel trägt: „Welche Farbe hat Weihnachten?“ Diese Frage stellten wir 24 sehr unterschiedlichen Menschen. Wir fragten einen Arbeiter und eine Anwältin, einen Gewaltforscher und eine Putzfrau, wir fragten einen Juden, einen Buddhisten, einen Atheisten und einen evangelischen Pfarrer. Am Ende des Buches schenkt uns sogar eine Blinde ihre Antwort.
Ihre Antworten sind so unterschiedlich und vielfältig wie die Farben und die Menschen selbst. Also bei Weitem nicht nur Grün und Rot – die Farben spiegeln den gesamten Farbkreis wider. Farbwahrnehmungen sind eng mit der eigenen Geschichte, der Herkunft und Kultur, der Erinnerung verknüpft.
Vielleicht wollen Sie sich auch mal fragen, welche Farbe Weihnachten für Sie hat?
Ich möchte Ihnen meine Antwort auf die Frage schenken – und mich damit für das bedanken, was die UfUs mir schon geschenkt haben). „Schenken“ heißt auch sich widmen, sich zuwenden: dem anderen, dem Moment, der Tat. Vielleicht auch unseren Idealen und Werten und dem, wofür wir stehen. An jedem Tag des Jahres. Das ist für mich die Bedeutung von Weihnachten.
Wo Weihnachten ist
25 Grad Celsius oder 77 Grad Fahrenheit. Die Luftfeuchtigkeit beträgt 60 Prozent, als wir an der Baumschule neben der Interstate 75 vorbeifahren. „Christmas Trees“ steht auf dem Transparent davor. Unter knallblauem Himmel deplatziertes Tannengrün im Quadrat. Links und rechts daneben Palmen und das satte Grün Floridas. Aus dem Radio tönt „I’m dreaming of a white Christmas“. Im Diner Fensterbildchen mit Schneemotiven. Die Bedienungen tragen rote Mützen mit weißer Krempe und stützende glänzende Feinstrumpfhosen. Die traditionellen rotweißen Zuckerspazierstöcke, die mit auf dem Rechnungsteller liegen, werden draußen schnell klebrig.
Es wird früh dunkel. Vor den nicht unterkellerten Häusern der Vorstadt wetteifern die Bewohner mit ihren Weihnachtsdekorationen. Der höchste Stromverbrauch des Jahres: Lichterketten entlang jeder architektonischen Linienführung, um Fenster und Türen, entlang des Daches, des Kamins, der Treppengeländer. Lichterketten um alle Bäume und Büsche.
Im Vorgarten stehen Santa Claus und seine Rentiere hell erleuchtet neben Märchenfiguren und einem übergroßen Kühlschrank mit Glasscheibe. Davor steht ein Schild, das auf den bizarren Inhalt hinweist: „Real Snowman“.
Welche Farbe hat Weihnachten wo?
Ein Schweizer Bergdorf. Die austauschbare Weihnachtsdekoration des Nobelhotels ist in Blau und Silber gehalten. Der Baum in der Lobby zu gerade und gleichmäßig gewachsen. Blausilberne Weihnachtsdekoration von der Rezeption bis zum Speisesaal. Ich bekomme meinen ersten Lipgloss geschenkt. In einem mattierten Glasröhrchen mit Kugelroller. Eine rötliche Flüssigkeit, die nach Kirsche schmeckt. Auf dem WC im Erdgeschoss fällt er mir aus Versehen in die Toilette.
Welche Farbe hat Weihnachten wo?
Der Baum stößt an die Decke des niedrigen Holzhäuschens im Elsass. Der Kamin brennt und meine Mutter hängt dicke Trauben von Weihnachtskugeln an den Baum. Darunter liegen Geschenkehäufchen auf braunem Teppichboden. Die Kerzen am Baum und der Kamin legen ein warmes, flackerndes Licht auf die Szenerie, die sich gleich erheblich ändern wird.
Durch den hohen Schnee gehen wir zu französischen Freunden. Wir kommen durch die Tür, es ist laut und bunt. Am Baum blinkende farbige Lichter, alles rennt hin und her. Auf die lange Tafel werden Speisen aufgetragen. Schüsseln und Töpfe unterschiedlichsten Inhalts. Schalentiere, Salate, Gänseleber, Fleisch. Dazwischen Lachen und Tanzen. Der Weißwein löst den Sekt ab. Rotwein zum Käse. Das Plastikbäumchen auf dem Tisch wippt, man kritzelt auf die Papiertischdecke – der Verständigung wegen.
Nach stundenlangem Essen Bescherung für die Kinder. Buntes, schrilles Plastikspielzeug, das meistens auch noch tönt und den Frühling wohl kaum erleben wird, wird aus noch bunteren Kartons gezogen. Erhitzte Gesichter, Küsschen, Schulterklopfen, Lachen.
Es ist schon Morgen, als wir durch den Schnee, der alle Geräusche dämpft, zurückstapfen.
Welche Farbe hat Weihnachten wo?
Meine Tochter ist zwölf Tage alt. Wir liegen im Schlafzimmer. Die Wände und die Decke sind sienabraun gekalkt und sehen aus, als wären sie aus Samt. Ich rieche ihre Haut. Der Geruch von Rosen- und Lavendelöl liegt über allem. Im Raum ist gedämpftes Licht und das Wunder der Geburt noch greifbar nah.
Welche Farbe hat Weihnachten wo?
Im größten Raum des Kindergartens liegt eine Spirale aus Tannengrün auf dem Boden. Sie nimmt fast den ganzen Raum ein. In der Mitte der Spirale eine Kerze. „Adventsgärtlein“ heißt dieser Brauch, bei dem jedes Kind mit einer Kerze, die in einem Apfel steckt, die Spirale entlangläuft, um sein Licht in der Mitte anzuzünden. Auf dem Weg zurück setzt es seine Kerze auf dem Tannengrün ab. Am Ende, wenn jedes Kind seine Kerze abgestellt hat, ist die ganze Spirale erleuchtet.
Welche Farbe hat Weihnachten wo?
Weihnachten hat die Farbe einer Kerzenflamme.
In mir.
Besinnliche Weihnachten!
Ihre
Nathalie Pagels